Bregenzer
blaue illustrierte Wellen
Aktualisiert am 28. Juli 2025

Lesezeit 4 Min.

„Du hast nur eine einzige Patrone!“

Was zwei Sängerinnen zum Schicksal von Œdipe beitragen

Szene aus "Œdipe", 2025 im Festspielhaus, Marina Prudenskaya (Jokaste) und Paul Gay (Œdipe) in dunkler Kleidung, stehen nah beieinander, Œdipe hebt seine Hände zu Jocastes Gesicht, Jocaste hält seine Hände, im Hintergrund weitere kostümierte Darstellende

Marina Prudenskaya (Jokaste) mit Paul Gay (Œdipe)

Unterschiedlicher könnten ihre Rollen und Auftritte in der Oper Œdipe  kaum sein. Die beiden Mezzosopranistinnen Anna Danik (Sphinx) und Marina Prudenskaya (Jocaste) über Herausforderungen wie Nebel und umgeschnallte Flügel, über das Schicksal und was sie von den Bregenzer Festspielen mitnehmen werden. 

In vier markanten Bühnenbildern dreht sich bei Œdipe  alles um die Frage, ob es ein Schicksal gibt – und wenn ja, ob man ihm entkommen kann. In ihren beiden Rollen sind die zwei Sängerinnen Schlüsselfiguren für Ödipus. Privat stehen sie der Schicksalsfrage mit einem entschiedenen „Jein“ gegenüber. „Wenn man an Schicksal glaubt, bedeutet das, dass man keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann, weil man davon ausgeht, dass alles schon vorherbestimmt ist“, beginnt Marina Prudenskaya den kleinen philosophischen Exkurs zu Beginn des Gesprächs. „Genau, dann bist du nicht mehr frei in deinen Gedanken“, ergänzt Anna Danik, „und eigentlich braucht man immer einen Ausweg – einen eigenen Ausgang". Auf die – vielleicht nur vermeintliche – Macht des Schicksals kommen wir später noch einmal zurück.

Szene aus "Œdipe", 2025 im Festspielhaus, links Jokaste (Marina Prudenskaya) im roten Kleid, von Créon (Tuomas Pursio) an den Armen gehalten, im Hintergrund Le Grand Prêtre (Nika Guliashvili) im hellen Gewand, rechts Laïos (Michael Heim) mit Baby Œdipe im Arm

V.l.n.r.: Marina Prudenskaya (Jokaste), Tuomas Pursio (Créon), Nika Guliashvili (Le Grand Prêtre) und Michael Heim (Laïos)

„Kleinere Rollen sind wichtig“

In der selten gespielten Oper von George Enescu ist der Lebensweg der Titelfigur nach antiker Überlieferung eindeutig vorgezeichnet. Marina Prudenskaya verkörpert Jocaste – die leibliche Mutter und unwissentliche Ehefrau von Ödipus. Zwar steht sie immer wieder auf der Bühne und hat mehrere Kostümwechsel, doch ihre Arien sind recht kurz. „Es gibt so viele andere Rollen in der Oper – elf oder zwölf –, aber eigentlich hat Enescu alles für Œdipe  geschrieben. Er muss leiden … den ganzen Abend lang … immer auf der Bühne …“ Marina Prudenskaya erzählt das mit einer Mischung aus Augenzwinkern, Bewunderung – und einer Spur Mitleid. Anna Danik, die die Sphinx verkörpert, stimmt mit einem kräftigen Kopfnicken zu. „Natürlich ist es schöner, wenn eine Rolle größer angelegt ist und sich durch die ganze Oper zieht – da hat man einfach mehr Möglichkeiten“, meint Marina Prudenskaya. „Aber die kleineren Rollen sind trotzdem wichtig“, sagt Anna Danik. „Du musst in kurzer Zeit alles auf den Punkt bringen. Du hast nur eine Patrone, einen Schuss, einen einzigen Moment – und der muss sitzen. So ist das mit den kleinen Rollen: Sie sind schnell vorbei – und wenn etwas nicht klappt, gibt’s keine zweite Chance.“

Szene aus "Œdipe", 2025 im Festspielhaus, Anna Danik (La Sphinge) im Sphinx-Kostüm, die Hände über den Kopf geführt, roter, nebliger Hintergrund

Anna Danik (La Sphinge)

Im Nebel singen

Auch wenn der Auftritt der Sphinx nur kurz ist, so stellt er Anna Danik dennoch vor einige Herausforderungen. „Es ist das Schicksal der Sphinx, dass bei ihrem Auftritt so viel Nebel auf der Bühne liegen kann, dass ich den Dirigenten nicht sehe“, schildert sie ihre Situation in Œdipe. „Wenn ich nur zwei Sekunden verpasse, ist es schwer, wieder den Anschluss zu finden – denn Enescus Musik ist kompliziert. Sie habe deshalb wie verrückt mit dem Metronom geübt, erzählt sie weiter: „Einfach um sicher zu sein, dass ich an einer bestimmten Stelle auch ohne Sichtkontakt zum Dirigenten – also quasi blind – den Einsatz finde.“ Hinzu kommt: Der Nebel im zweiten Akt lasse sich nie ganz kontrollieren – jedes Mal bewege er sich ein wenig anders über die Bühne.

Doch zurück zur Rolle, die die Sphinx in Œdipe spielt. Die Rätselhafte hat zwar nur einen einzigen Auftritt, doch der hat in der Bregenzer Inszenierung längst das Etikett „ikonisch“ erhalten. Wie singt es sich mit sieben Meter breiten Flügeln? „Es ist die schwierigste Rolle, die ich je gemacht habe. Da ist zum einen die Vorbereitung – nicht nur musikalisch, sondern auch körperlich. Ich trage ein sehr aufwendiges Make-up und ein kompliziertes Kostüm. Es dauert fast zwei Stunden, bis ich vollständig angezogen und geschminkt bin. Und etwa eine halbe Stunde, um alles wieder abzulegen und die Schminke zu entfernen. Das ist die physische Seite."

Szene aus "Œdipe", 2025 im Festspielhaus, Anna Danik (La Sphinge) im Sphinx-Kostüm und in Schweinwerferlicht, rechts Paul Gay (Œdipe), dunkler Hintergrund

Anna Danik (La Sphinge) mit Paul Gay (Œdipe)

„Ich spüre ihre Bewegung in mir“

Und dann ist da noch die mentale Dimension der Rolle. Enescu hat für die Sphinx eine ganz besondere, akustisch äußerst präzise Partie geschrieben – voller feiner Nuancen, mit geflüsterten Passagen, ausschließlich im Pianissimo. „Es ist wirklich so still. Alles bewegt sich im Bereich von piano bis pianissimo – und dann nur ein kurzer Ha-ha-ha-Kollaps. Und ich darf mich selbst dabei nicht bewegen: Ich stehe auf einem Podest, mit diesen riesigen Flügeln. Das ist die dritte Herausforderung: Diese Teile erfordern volle Konzentration. Aber ich habe ein Gefühl im Rücken, als würden die Flügel zu meinem Körper gehören. Sie liegen ganz nah an meiner Haut, an meinen Muskeln. Ich spüre ihre Bewegung in mir.“ Was nehmen die beiden Künstlerinnen aus Bregenz mit? „Freunde!“, kommt es bei Anna Danik wie aus der Pistole geschossen. Ein großartiges Ensemble, ein tolles Team – und die tägliche Gelegenheit, schwimmen zu gehen. Als Finnin ist sie Seen gewohnt, doch der 22 Grad warme Bodensee ist dann doch etwas anderes. Auch Marina Prudenskaya, geboren in St. Petersburg, liebt den See – und verbindet mit Bregenz ganz besondere Erinnerungen: „Bregenz war mein Ticket nach Europa. 1999 war ich bereits Solistin in Moskau, und mein Sommerjob führte mich zu den Bregenzer Festspielen – eine kleine Rolle in Die griechische Passion von Bohuslav Martinů. Damals rief mich mein Agent an und sagte mir, dass in Mannheim ein Vorsingen für die Ulrica in Verdis Ein Maskenball stattfinden würde. Von Bregenz aus ein Katzensprung! Ich bin hingefahren, bekam die Rolle – und sie wollten, dass ich im Ensemble bleibe. Seither bin ich in Deutschland. Ohne Bregenz hätte sich mein Weg anders entwickelt. Ja, das Schicksal – wir sprechen in Œdipe schließlich über nichts anderes.“