Das Gespräch führten Viola Bierich und Lena Flauger mit sich selbst und ChatGPT.
Der Text erschien in Ausgabe 3 (06/25).
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„Ich war eine Marionette im Spiel der Götter“
Stellen Sie sich vor: Ödipus, der legendäre König aus Mythos und Tragödie, sitzt uns gegenüber. Nach Jahren des Schweigens ist er bereit, über sein Leben zu sprechen, das von Rätseln, Schuld und einem unausweichlichen Schicksal geprägt war.
Ein fiktives Interview über Schuld, Erkenntnis und Erlösung – inspiriert vom Libretto zu George Enescus Oper Œdipe.
König Ödipus, Ihre Geschichte ist gezeichnet von dramatischen Wendungen und ausweglosen Situationen. Wie denken Sie nach so vielen Jahren über Ihr widriges Schicksal? Blieb Ihnen letztlich nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren?
Ödipus: Das ist die Frage, nicht wahr? Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, dem zu entkommen, was die Götter für mich vorherbestimmt hatten. Doch wie ein Fluss stets zum Meer findet, kehrte ich immer zu meinem Schicksal zurück. So floh ich als junger Mann aus Korinth, der Heimat meines vermeintlichen Vaters Polybos, weil ich glaubte, durch Distanz dem Verhängnis zu entgehen. Stattdessen brachte mich meine Entscheidung direkt dorthin, wo sich mein Schicksal erfüllte. Die Prophezeiung – dass ich meinen Vater töten und meine Mutter heiraten würde – war eine Bürde, die ich nicht abschütteln konnte …
Viele bewundern Ihren Intellekt und Ihre innere Stärke. Mutig traten Sie der Sphinx entgegen, die die Stadt Theben terrorisierte – und besiegten sie. Glaubten Sie da, dass Sie die Kontrolle über Ihr Leben hatten?
Ja. Als ich die Sphinx besiegte, fühlte ich mich unverwundbar. Ihr Rätsel – „Was ist größer als das Schicksal?“– schien mir absurd einfach zu lösen. Selbstbewusst antwortete ich: „Der Mensch ist stärker als das Schicksal!“ (Das ist die Version des Rätsels aus der Oper Œdipe. Im Mythos lautet das Rätsel: „Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?“ – „Der Mensch.“) Heute weiß ich: Die Antwort war richtig, aber ich habe sie falsch verstanden. Vielleicht machte mich mein Triumph unvorsichtig und blind …
Ich war jung, klug, stark. Ich hatte die Antwort, die sonst niemand wusste. Ich besiegte die Sphinx nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Glauben an die menschliche Freiheit, an die Möglichkeit, dem vorgezeichneten Pfad zu trotzen. So rettete ich die Stadt. Die Menschen jubelten, sie nannten mich Befreier. Und ich – ich glaubte ihnen. Ich glaubte, ich hätte das Schicksal besiegt. Doch in Wahrheit war ich direkt in seine Arme gelaufen. Ich heiratete Iokaste. Ich liebte sie aufrichtig, wir hatten vier Kinder … Ich war glücklich.

Aber es war ein flüchtiges Glück. Was hat das mit Ihnen gemacht, als Sie erkannten, dass die Prophezeiung sich längst erfüllt hatte?
Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Ich war blind, lange bevor ich mir mein Augenlicht nahm. Ich hatte König Laios, meinen Vater, den ich für einen Fremden hielt, im Streit an einer Wegkreuzung getötet – in einem Moment des Zorns. Später heiratete ich Iokaste, die Königin von Theben. Ich liebte sie, ohne zu wissen, wer sie war. Als ich erfuhr, dass sie meine Mutter und Laios mein Vater war ... Da verlor ich den Boden unter den Füßen. Ich hatte geglaubt, alles im Griff zu haben, dabei war ich nur eine Marionette im Spiel der Götter. Mir dies einzugestehen, war vielleicht lange zu schmerzhaft – doch es kam der Zeitpunkt, an dem ich den Tatsachen ins Auge blicken musste und nicht mehr vor mir selbst weglaufen konnte.
Sie haben sich selbst die Augen ausgestochen, als die Wahrheit ans Licht kam. Warum?
Weil ich es nicht ertragen konnte, das Licht zu sehen, nachdem ich die Dunkelheit in mir erkannt hatte. Die Augen sind nutzlos, wenn der Geist blind ist. Es war meine Schuld, mein Verbrechen. Meine Mutter und Ehefrau Iokaste nahm sich das Leben, weil sie die Wahrheit nicht ertragen konnte. Dieses furchtbare Schicksal lastete nicht nur auf mir, sondern auch auf ihr. Danach konnte ich nicht länger als König regieren oder unbekümmert unter Menschen wandeln … Jahre später bin ich nur noch ein Schatten. Ein alter, blinder Mann, der von Ort zu Ort zieht. Meine Tochter Antigone führt mich. Sie ist mein Licht. Ich spreche mit niemandem, ich verlange nichts mehr vom Leben. Aber tief in mir beginnt etwas zu reifen. Kein Trost – eher ein anderes Verständnis.
Einige sehen Sie als Opfer des Schicksals, andere als jemanden, der für seine Taten geradestehen muss.
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken – was bleibt?
Die Erkenntnis, dass ich ein Mensch bin. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Mensch, der geliebt und gehasst, anderen geholfen, aber auch viel zerstört hat. Das Schicksal hat die Bühne bereitet, aber ich habe die Schritte getan. Die Götter mögen den Weg vorgezeichnet haben, doch es war meine Wut, mein Stolz, mein Gerechtigkeitssinn – und meine Blindheit –, die mich vorantrieben. Als ich die Frage der Sphinx beantwortete, gab ich die richtige Antwort, aber ohne sie wirklich zu verstehen. Damals glaubte ich, der Mensch ist stärker als das Schicksal, weil er es überlisten und ihm entgehen kann. Heute weiß ich, dass wir nicht vor der Verantwortung fliehen können. Wir können nur versuchen, sie zu tragen. Vielleicht liegt darin die größte Weisheit.
Nach allem, was geschehen ist, gehen Sie nicht in Verzweiflung unter, sondern scheinen einen inneren Frieden gefunden zu haben ...
Vielleicht ist es kein Frieden im klassischen Sinn. Kein Trost, keine Versöhnung mit dem, was war. Aber ich habe aufgehört zu fliehen – vor mir selbst, vor der Wahrheit, vor dem Schmerz. Ich sehe klarer, gerade weil ich blind bin. Es ist kein Heldentum mehr, das mich trägt, kein Glaube an Größe oder Bedeutung. Es ist etwas Einfacheres – vielleicht Tieferes: Dass wir uns dem Leben und unseren Taten stellen. Dass wir weitergehen, auch wenn nichts leicht ist. Im Anerkennen, im Aushalten – darin liegt vielleicht das Menschlichste überhaupt.
Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht, dass Johan Reuter, dessen Interview hier hätte stehen sollen, seine Rolle als Œdipe leider aus persönlichen Gründen absagen musste. An seiner Stelle übernimmt Paul Gay die Titelpartie. Wir haben uns dennoch gefragt, wer König Ödipus ist, und ihn fiktiv zum Gespräch gebeten.