Text: Florian Amort
Der Text erschien in Ausgabe 3 (06/25).
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Gemeinschaft in Bewegung
Borrowed Light – Tero Saarinens hypnotische Verschmelzung von
Tanz, Musik und Licht – feiert nach einem beispiellosen Welterfolg im kommenden Festspielsommer seine österreichische Erstaufführung.

Was verbindet eine religiöse Bewegung des 18. Jahrhunderts mit zeitgenössischem Tanz? Warum richten wir unseren Blick heute, in einer zunehmend fragmentierten, von Unsicherheiten geprägten Welt, auf eine Lebensweise, die radikale Einfachheit, Spiritualität und Gleichheit lebte? In seiner international gefeierten Produktion Borrowed Light lässt der finnische Choreograph Tero Saarinen die faszinierend fremde Welt der Shaker lebendig werden – nicht als historisches Abbild, sondern als poetische Reflexion über Gemeinschaft, Idealismus und die Zerbrechlichkeit des kollektiven Zusammenlebens.
Borrowed Light ist eine Kreation von berührender Klarheit und emotionaler Wucht. Entstanden ist die Arbeit 2004 in Zusammenarbeit mit The Boston Camerata, einem der renommiertesten Vokalensembles für Alte Musik. Die von sechzehn Sänger:innen a cappella vorgetragenen Shaker-Songs bilden das klangliche Rückgrat der Aufführung: modale Melodien von strenger Schönheit, durchdrungen von spiritueller Inbrunst. Ihre Wurzeln liegen in der englischen Volksliedtradition – ihre Wirkung ist unmittelbar, archaisch, fast tranceartig.
Die Shaker: Gleichheit, Ekstase, Klarheit
Die „United Society of Believers in Christ’s Second Appearing“, wie sich die Shaker offiziell nannten, spaltete sich im 18. Jahrhundert von den Quäkern ab und wanderte 1774 unter der Führung der charismatischen Ann Lee in die Vereinigten Staaten aus. Die Shaker gründeten 19 Kommunen, lebten zölibatär und teilten ihren Besitz, glaubten an die Gleichberechtigung der Geschlechter und lehnten Gewalt kategorisch ab. Arbeit war für sie wie ein Gebet: „Hands to work, hearts to God.“
Die Shaker-Gemeinschaften folgten strengen Regeln: Ihre spirituelle und soziale Ordnung war konsequent, aber auch kompromisslos – so sehr, dass sie langfristig nicht überlebensfähig war. Neue Mitglieder kamen nur durch Konversion oder Adoption hinzu; eigene Nachkommen waren durch das Zölibat ausgeschlossen. Heute lebt nur noch eine einzige Person nach den Grundsätzen der Shaker. Die Geschichte dieser Bewegung zeigt damit nicht nur das Ideal gelebter Gemeinschaft, sondern auch deren Grenzen, wenn sie keinen Raum für Veränderung oder Weiterentwicklung lässt.

Bekannt wurden die Shaker vor allem für ihre ekstatischen Gottesdienste, die sich im Laufe der Jahrzehnte zu choreographierten Ritualen aus Gesang und Tanz entwickelten. Ihre Musik entstand nicht aus Professionalisierung, sondern aus innerer Inspiration: Hunderte einfache Gläubige komponierten tausende Lieder, viele davon nur in handschriftlicher Form überliefert. In Borrowed Light erklingen viele dieser Stücke erstmals außerhalb eines religiösen Rahmens.
Seit der Uraufführung 2004 hat Borrowed Light weltweit über 50.000 Menschen in den Bann gezogen.
Klang gewordene Architektur
Die Shaker glaubten an die spirituelle Kraft von Klarheit – in Gedanken wie in Dingen. Ihre Möbel gelten bis heute als Ikonen funktionaler Ästhetik. Auch ihre Versammlungshallen spiegeln dieses Prinzip: Sie wurden auf hohlen Holzkonstruktionen errichtet, die wie der Resonanzkörper einer Gitarre den Gesang und die Tanzschritte natürlich verstärkten – Musik, Bewegung und Raum bildeten eine unauflösliche Einheit.
Tero Saarinen übersetzt diesen Geist in ein hochpräzises, tief empfundenes Bewegungsvokabular. Tänzer:innen und Sänger:innen teilen sich in Borrowed Light die Bühne, ihre Körper und Stimmen verwoben zu einem rituellen Strom: spiralförmige Gesten, synchrone Formationen, intensive Solomomente, getragene Übergänge. Es ist ein Tanz, der ebenso aus dem Körper wie aus der Seele kommt – getragen von einer asketischen Ästhetik und dem tiefen Glauben an die Kraft des Miteinanders.
Dabei geht es Saarinen nicht um folkloristische Zitate. Vielmehr spürt er der Frage nach: Was hält Gemeinschaften zusammen? Was sind wir bereit aufzugeben, um gemeinsam etwas zu erreichen? Wo endet Vertrauen – und wo beginnt blinder Idealismus? „Im Kern bleibt das Wesen von Gemeinschaft dasselbe“, sagt Saarinen. „Ob politisch, religiös oder künstlerisch – immer geht es um Vertrauen, Kompromisse und die Sehnsucht nach etwas Größerem.“ Als Borrowed Light 2004 entstand, war seine Kompanie gerade zehn Jahre alt – eine fragile Struktur, getragen von Idealismus. Nun, zum 30-jährigen Bestehen der Tero Saarinen Company, kehrt das Werk zurück: gereift, geöffnet für neue Stimmen, getragen von einer neuen Generation von Performer:innen.
Ob politisch, religiös oder künstlerisch – immer geht es um Vertrauen, Kompromisse und die Sehnsucht nach etwas Größerem.
Geliehenes Licht, geteilte Hoffnung
Der Titel Borrowed Light verweist auf eine architektonische Praxis der Shaker: In Ermangelung künstlicher Lichtquellen wurden Räume so gebaut, dass sie über Fenster und Öffnungen Licht aus benachbarten Zimmern „ausliehen“. Saarinen hebt dieses Motiv auf eine metaphorische Ebene: Licht als Sinnbild für menschliches Miteinander. Für das, was wir einander geben – unsere Kraft, unsere Ideen, unser Mitgefühl. In einer Zeit, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt vielerorts zu zerbrechen droht, entfaltet Borrowed Light eine stille, eindringliche Vision: dass wir durch gemeinsames Streben, durch geteilten Ausdruck und gegenseitiges Vertrauen eine neue Form von Verbundenheit schaffen können.
Borrowed Light ist keine laute Inszenierung. Es ist ein konzentriertes Ritual, eine meditative Choreographie. Es liefert keine einfachen Antworten, aber es schafft einen Raum für Fragen – über Glaube, Zugehörigkeit und das fragile Gleichgewicht zwischen Ich und Wir. Joel Cohen, musikalischer Leiter der ursprünglichen Produktion, bringt es auf den Punkt: „Diese Musik feiert das Beste im US-amerikanischen Geist: Liebe, Frieden, Gemeinschaft. Möge sie uns daran erinnern, was dauerhaft und schön sein kann.“