Text: Ingrid Lughofer
Der Text erschien in Ausgabe 1 (11/24)
Lesezeit 4 Min.
Mythos Ödipus
George Enescu, geboren 1881 in Rumänien, studierte in Paris und zuvor in Wien, wo er Johannes Brahms bewunderte und die Bühnenstücke Richard Wagners kennen und lieben lernte. Später als international gefragter Violinvirtuose, Dirigent und Pädagoge – er unterrichtete unter anderem Yehudi Menuhin – war er so gefragt, dass er kaum Zeit zum Komponieren fand. Dennoch schuf er Orchesterwerke sowie Kammermusik und fasste auch den Entschluss, eine Oper zu schreiben. 1910 sah er Sophokles’ König Ödipus an der Pariser ComédieFrançaise und war sofort fasziniert. Er hatte sein Thema gefunden!
Ödipus, der schuldlos schuldig wurde, indem er seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete, gilt uns heute nicht nur als Inbegriff des tragischen Helden. Durch den psychoanalytischen Fachbegriff des Ödipuskomplexes wurde er auch abseits der Bühne unsterblich. Es war Sigmund Freud, der feststellte, dass sich kleine Jungen in einer Phase ihrer Entwicklung stark zur Mutter hingezogen fühlen und den Vater als Rivalen empfinden. Dieses Phänomen bezeichnete er als Ödipuskomplex. Löst sich dieser Konflikt nicht auf, könne dies laut Freud zu Neurosen und Persönlichkeitsstörungen führen.
Ödipus ist eine Gestalt aus den griechischen Mythen. In schriftlosen Zeiten halfen diese ursprünglichen Geschichten den Menschen, das Leben zu erklären, Orientierung zu finden und gesellschaftliche Regeln festzulegen. Sie stellten die Rechte und Pflichten der Menschen in Beziehung zur göttlichen und natürlichen Welt.
Schon in der Antike befassten sich die großen Dramatiker, Künstler und Philosophen mit dem unausweichlichen Schicksal des Ödipus. Sophokles, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte und als Staatsmann und Priester wirkte, zählt neben Aischylos und Euripides zu den drei berühmten antiken griechischen Tragödiendichtern. Von seinen zahlreichen Werken sind nur wenige überliefert. In den Stücken König Ödipus und Ödipus auf Kolonos griff er den Mythos um Ödipus auf und beleuchtete besonders das tragische Ende des Protagonisten. Das Publikum hat einen Wissensvorsprung und erlebt die katastrophalen und wahnwitzigen Wendungen als Erzählungen mit, die schließlich wie in einem Thriller zur Aufdeckung der früheren Geschehnisse führen und die schicksalshaften Verflechtungen zeigen.
Dass es um den tödlichen Streit mit dem Vater und Inzest mit der Mutter geht, ist bekannt. Doch wie kam es dazu?
Der Mythos besagt, dass König Laios von Theben aufgrund eines Missbrauchs verflucht wurde. Das Orakel von Delphi prophezeit ihm, dass sein Sohn ihn töten und seine Frau Iokaste heiraten werde. Um dem Fluch zu entgehen, lässt Laios seinen neugeborenen Sohn im Wald aussetzen, doch das Kind überlebt und wächst am Königshof von Korinth als Ödipus auf. Als er seine wahre Herkunft erahnt und das Orakel befragt, wird ihm Mord und Inzest prophezeit. Um seine vermeintlichen Eltern zu schützen, verlässt er Korinth. Auf einer Wegkreuzung tötet er unwissentlich seinen leiblichen Vater und löst damit die verhängnisvolle Kette der Ereignisse aus, die ihn nach dem Sieg über die Sphinx zum König von Theben und zum Ehemann seiner eigenen Mutter machen.
Als in Theben die Pest ausbricht, verkündet das delphische Orakel den Grund: Der Mörder des Laios lebt unbehelligt in der Stadt. Ödipus, unterstützt vom blinden Seher Teiresias, klärt schonungslos alles auf; seine schicksalshafte Schuld kommt ans Licht, was zum Selbstmord seiner Mutter und zur Blendung seiner selbst führt. In Ödipus auf Kolonos beschreibt Sophokles schließlich das Exil und den Tod des Helden, wobei neue tragische Verstrickungen rund um seine Tochter Antigone angedeutet werden. Doch das ist eine andere Geschichte ...
Das Drama um Ödipus, den unwissenden Sohn, der die Schuld der Eltern trägt, verlangt nach zeitgenössischer Interpretation und künstlerischer Verarbeitung. Im Musiktheater gibt es zahlreiche Beispiele quer durch die Jahrhunderte: von Antonio Sacchini über Felix Mendelssohn Bartholdy und Ruggero Leoncavallo bis zu Igor Strawinsky, Carl Orff, Wolfgang Rihm sowie dem zeitgenössischen österreichischen Komponisten Wolfram Wagner.
George Enescu gelang es schließlich in der großen Choroper Œdipe – unterstützt von seinem Librettisten Edmond Fleg –, den gesamten Kosmos des Titelhelden von der Geburt bis zu seinem Tod zu zeigen. Der erste Akt ist ein Vorspiel, ähnlich wie in Richard Wagners Der Ring des Nibelungen, der vierte Akt endet hingegen in einer Art Verklärung. Die selten gespielte Monumentaloper ist spektakulär und stellt gewaltige Anforderungen an die Darsteller:innen und das Orchester.
Musikalisch beeindruckt das Werk durch seine fließenden Klangwelten, prächtigen Farben und rhythmische Kraft. Unvergesslich ist der Todesschrei der Sphinx, der von einer singenden Säge aufgenommen wird. Auch die Szene an der Wegkreuzung ist ebenfalls bemerkenswert: In einer gewittrigen Atmosphäre spielt ein Hirte ein bewegendes Flötensolo, während Œdipe die Götter verflucht. Mit einem orchestralen Sturm, untermalt von einer Windmaschine, erschlägt er schließlich seinen Vater.
Die Uraufführung von Œdipe fand 1936 in Paris statt und bescherte Enescu einen gewaltigen Erfolg. Das Publikum in Bregenz darf sich auf ein intensives Opernerlebnis mit archaisch-sinnlichen Bildwelten freuen, inszeniert von Andreas Kriegenburg, der bereits 2021 bei den Bregenzer Festspielen mit dem Schauspiel Michael Kohlhaas, einem Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin, für Begeisterung sorgte.