Text: Wolfgang Mörth
Der Text erschien in Ausgabe 1 (11/25).
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Kleine Oper mit einem Schuh
Ob glühendes Abendrot am See, raschelndes Laub oder glitzernder Frost: Mit einem Hang zur Romantik könnten wir in der Schönheit der Natur förmlich versinken – wie auch der Autor Wolfgang Mörth erfahren durfte.

An einem kalten Februartag des Jahres 2021 verließ ich, vom Mündungsgebiet der Bregenzer Ach kommend, den Spazierweg, der in die Stadt führt, und schlug mich in die Büsche Richtung Ufer. Ich war nicht der Erste, der auf diese Idee gekommen war, doch nach und nach verloren sich die Spuren der anderen, und irgendwann zog ich meine eigene, einsame Spur in den Schnee.
Mühsam kämpfte ich mich durch einen unwegsamen Abschnitt des Auwalds und geriet schließlich in den Gürtel aus Schilf, das unter der Last der Schneedecke niedergedrückt worden war, nur hier und da ragten ein paar verdorrte Rohre daraus hervor. Die Sonne war bereits hinter den Schweizer Bergen verschwunden und das bisschen Restlicht, das sie noch zustande brachte, würde bald aufgebraucht sein. Plötzlich hörte ich ein gläsernes Klirren unter dem Harsch und wusste, dass ich mich nicht mehr über festem Grund, sondern auf einer Eisschicht von zweifelhafter Tragfähigkeit bewegte.
Ich erschrak, blieb stehen und sah mich im Halbdunkel um. Ich war vielleicht hundert Meter vom ordentlichen Weg entfernt, auf dem ich innerhalb von fünfzehn Minuten das Festspielhaus erreicht hätte, wo ich für gewöhnlich den Durchgang zwischen Tribüne und Bühne nahm, der das ganze Jahr über passierbar war, denn es galt ein altes Wegerecht entlang des gesamten österreichischen Bodenseeufers, das auch von den Festspielen nicht aufgehoben werden konnte, es sei denn, es fand gerade eine Aufführung auf der Seebühne statt.
Normalerweise wäre ich also jetzt am riesigen Kopf des Horrorclowns mit den weit aufgerissenen Augen und dem grinsenden Mund vorbeigekommen, der die Funktion und das Schicksal Rigolettos symbolisierte, und am ebenso riesigen Fesselballon, in dessen Korb Rigolettos Tochter am Ende jeder Vorstellung effektvoll in den nächtlichen Himmel entschwand. Stattdessen stand ich inmitten dieser Wildnis, und schon beim nächsten Schritt hätte ich durch Schnee und Eis brechen und versinken können.
Ich war hier, weil ich einem Impuls folgend sicheren Boden verlassen hatte, um im Kontakt mit einem Stück echter Natur mir selbst zu begegnen. Doch diese Natur ist, so wie die Oper, eine Erfindung der Romantik, entsprungen der Fantasie von Menschen, die nach großen Gefühlen in Momenten schicksalhafter Verstrickung suchten, in der Hoffnung, sie würden dadurch zu klärenden Einsichten über den Sinn ihrer Existenz gelangen. Das heißt, das Bedürfnis, das mich auf einen Abweg hinaus ins Schilf lockte, war Folge meiner kulturellen Programmierung, die mich dazu zwang, oder dazu befähigte, abgeschiedene, einsame Orte wie diesen als Orte der Sehnsucht und der emotionalen Tiefe zu erleben.
Dieselbe Programmierung ist es, die uns in die Lage versetzt, das Spiel auf dem See, den See selbst, die Anwesenheit all der Menschen, den Sonnenuntergang, der sich täglich zeitgleich mit dem Beginn der Vorstellung ereignet bzw. das nahende Gewitter und den Regenguss, der die Vorstellung unterbricht, als ein zusammenhängendes dramatisches Ereignis zu erfahren. Der Kulturmensch, speziell der romantisch geprägte, neigt dazu, in allen Geschehnissen, auch in den unerfreulichen, Elemente eines Schauspiels wahrzunehmen, das zu seiner Erbauung inszeniert ist. Dieses kulturell geprägte Verständnis der Welt hält große Emotionen und immer wieder neue Erkenntnisse für uns bereit, auf die kaum einer von uns verzichten möchte. Auch wenn es heißt, wir hätten dafür einen Preis zu bezahlen, nämlich den Verlust des Blicks auf das, was sich hinter dem Schleier befindet, den unsere Kultur über die wahre Natur der Dinge geworfen hat.
Es ist unwahrscheinlich, dass mir solche Gedanken durch den Kopf gingen, als ich dort auf dem Eis stand und es nicht wagte, mich zu bewegen. Woran ich sicher dachte, war: Je kälter es wird, umso härter wird das Eis, umso wahrscheinlicher werde ich mich retten können. Also wartete ich. Doch das Warten nützte nichts und mein kleines Drama, das einer Oper nicht würdig war, nahm seinen Lauf. Bis zu den Knien durchnässt und mit nur einem Schuh kam ich spät nachts frierend nach Hause. Ohne einen Blick auf die Festspielbühne geworfen zu haben, wo Rigoletto hämisch lachte – noch lachte, denn das Lachen würde auch ihm laut Libretto bald vergehen.
