Bregenzer

Festspielzeit

blaue illustrierte Wellen
Last change on 12. November 2025

Das Gespräch führte Anke Rauthmann.
Der Text erschien in Ausgabe 1 (11/25). 

Reading time 5 Min.

Mutiges mit Schönheit sagen

Giuseppe Verdis Meisterwerk La traviata ist diesen Sommer zum ersten Mal auf der Bregenzer Seebühne zu erleben. Regie führt Damiano Michieletto, einer der spannendsten Regisseure seiner Generation. Im Gespräch erzählt er, wie er Violettas Geschichte in die rauschenden 1920er verlegt und dabei Nähe und Spektakel verbindet.

Mann in schwarzem Pullover und hellen Hosen steht mit ausgestreckter Hand vor einem Spiegel mit Blumen auf dem Tisch.

Regieanweisung am Set für die filmischen Szenen in La traviata: In starken Bildern fängt Damiano Michieletto die intimen Momente der Oper ein.

Sie ist eine der berühmtesten Opern der Welt – und war zugleich einer der größten Skandale der Musikgeschichte: Giuseppe Verdis La traviata, uraufgeführt 1853 am Teatro La Fenice in Venedig, erzählt die tragische Geschichte von Violetta Valéry, einer Frau, die aus Liebe alles gibt – und daran zerbricht. Basierend auf dem Roman La dame aux camélias von Alexandre Dumas dem Jüngeren, komponierte Verdi ein Werk, das bis heute als Inbegriff der italienischen Oper gilt.

Was das Publikum bei der Uraufführung 1853 empörte, ist bis heute Kern der emotionalen Wucht dieser Oper: eine Prostituierte als Hauptfigur. Zu real, zu unbequem. Verdi brach mit Konventionen – und stellte eine Frau ins Zentrum, deren Schmerz aus gesellschaftlicher Kälte erwächst. Anders als in Dumas’ Vorlage, in der die todkranke Protagonistin vergeblich auf ihren Geliebten wartet und einsam stirbt, gewährt Verdi seiner Violetta einen letzten Moment der Liebe – ein flackerndes Aufleuchten des Glücks, bevor sie in Alfredos Armen stirbt. Eine Geste der Menschlichkeit, der Verklärung, aber auch des radikalen Realismus, mit dem Verdi der Oper eine neue Richtung wies: weg vom Ideal, hin zur schonungslosen Darstellung des Menschlichen – und das in einer ergreifend schönen Komposition.

Heute zählt La traviata („Die vom Weg Abgekommene“) zu den bekanntesten Opern weltweit. Auf der Bregenzer Seebühne erlebt das Werk erstmals eine Neuinterpretation durch Damiano Michieletto, einen der gefragtesten Opernregisseure seiner Generation.
 

Mann in dunkelblauem Jeanshemd lehnt mit einer Hand an einem Holzrahmen, die andere Hand in der Hosentasche.

Geboren und aufgewachsen in Venedig – einer Stadt, die Kunst und Innovation in ihrer DNA trägt –, hat sich der Italiener mit Produktionen an Häusern wie der Mailänder Scala, der Wiener Staatsoper oder der Royal Opera in London mit seinen sinnlichen, klugen und visuell starken Inszenierungen international einen Namen gemacht.

 

In Bregenz verlegt er Violettas Geschichte in die Welt der 1920er Jahre – voller Glanz und Glitzer, Einsamkeit und Emotion.

Hedonismus und Kälte

Die schillernden 1920er mit ihren rauschhaften Partys, der Mode, dem Eskapismus bieten für Michieletto eine ideale Folie für Verdis Gesellschaftskritik. „Diese Zeit wurde zum Symbol für Exzess, Feiern und Hedonismus schlechthin“, sagt der Regisseur. „Zudem mag ich die Ästhetik dieser Epoche sehr. Es war eine faszinierende Ära, die perfekt zur Atmosphäre von La traviata wie auch zur Opulenz der Seebühne passt.“

Eine Referenz für das Flair und die Atmosphäre der „Roaring Twenties“ war für Michieletto unter anderem F. Scott Fitzgeralds Roman Der große Gatsby: „Er schildert Triumph und Fall, Erfolg und Misserfolg – alles, was La traviata auch erzählt. Es ist eine zynische, kapitalistische, faszinierende Welt, die konsumieren will und keine Zeit zu verlieren hat.“ Violettas Schicksal entfaltet sich in diesem Setting als modernes Drama: Eine Frau im Licht der Aufmerksamkeit – und zugleich im Schatten gesellschaftlicher Verachtung.

Zwischen großer Bühne und Innerlichkeit

Die größte Herausforderung bei der Arbeit an La traviata sieht Michieletto in der Balance zwischen emotionaler Nähe und räumlicher Größe. „Es ist eine sehr intime Oper. Obwohl es fantastische Chor- und Ensembleszenen gibt, hat die tragische Konstellation Violetta-Alfredo-Germont die Dimensionen eines Kammerspiels“, sagt er. „Wir wollen die Qualität dieser Intimität bewahren und sie gleichzeitig für die große Bregenzer Seebühne spektakulär inszenieren.“

Dazu greift Michieletto in besonderem Maße auf filmische Mittel zurück: „Diese Produktion wird einige Videos mit kurzen Episoden aus Violettas Leben beinhalten, um das zu erzählen, was in der Oper nicht gezeigt wird. Damit werden wir versuchen, dem Publikum Violettas Menschlichkeit und ihr Leiden, ihre Träume und Wünsche noch näher zu vermitteln.“

Ich glaube, wenn mehr Frauen Opern komponiert hätten, wären ihre Heldinnen nicht immer gestorben.

Damiano Michieletto

Macht und Projektionen

In Verdis Werk mit seiner großen tragischen Liebesgeschichte geht es nicht zuletzt um gesellschaftliche Machtstrukturen und das Frauenbild seiner Zeit. „Ich denke, dass Violetta eine männliche Vorstellung von der Situation der Frau repräsentiert“, so Michieletto. „Die Frau wird als Objekt der Begierde gesehen, und es gibt nur zwei Möglichkeiten der Darstellung: entweder als eine gute Ehefrau, wie Germonts Tochter, oder als eine Prostituierte, die bezahlt werden muss. Violetta leidet unter diesem Urteil, kann sich ihm aber nicht entziehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass all diese Opern von Männern geschrieben wurden, die stets ihre eigene Perspektive auf die Situation der Frau projizierten. Ich glaube, wenn mehr Frauen geschrieben und komponiert hätten, wären ihre Heldinnen nicht immer gestorben – so wie es in fast allen dramatischen Opern der Fall ist.“

Nahaufnahme eines Schulterbereichs mit goldglänzend besticktem, transparentem Stoff und dunklem Haar im Hintergrund.

Musiktheater mit Mut – und Schönheit

Dass Giuseppe Verdi 1853 mit La traviata einen Skandal auslöste, sieht Michieletto als Akt künstlerischen Muts. „Verdi wählte ein zeitgenössisches Sujet, noch dazu die Geschichte einer Prostituierten, und war damit radikal mutig. Er berührte ein unangenehmes Thema, das der Zensur ausgesetzt war, so sehr, dass die Oper bei ihrer Uraufführung den unverfänglichen Titel Violetta tragen musste. Ich frage mich: Wo sind diese mutigen Komponist:innen heute? Wo ist unser Mut, mit politischen und sozialen Themen Skandale zu erzeugen und die öffentliche Meinung zu provozieren? Dies ist eine der großen Lehren Verdis. Und das erreicht er mit Mitteln der Schönheit!“

Technik trifft Atmosphäre

Seine erste Begegnung mit der Bregenzer Seebühne hatte Michieletto als Zuschauer – und war sofort begeistert. „Die erste Produktion, die ich live auf der Seebühne sah, war Andrea Chénier. Ich war beeindruckt von der Beziehung zwischen Bühne und Publikum, die trotz der Größe eine gewisse Intimität bewahrt. Was mich aber am meisten faszinierte, war die hohe Qualität des Sounddesigns und der Verstärkung des Orchesters – das ist technisch wirklich außergewöhnlich.“

Verwelkte rosa Lilien und grüne Blätter liegen neben einem goldfarbenen, rechteckigen Schmuckkästchen auf einer Marmoroberfläche.

Und die Bühne selbst? Sie spiegelt eine Welt, in der das Leben zur Inszenierung wird und die Menschlichkeit darin langsam verschwindet. „Wir versuchen, den Blick zu schärfen – für die Zerbrechlichkeit eines Menschen, der sich für die Liebe entscheidet und daran zerbricht“, sagt Michieletto. „Violetta erscheint als reale Frau – zerrissen zwischen Sehnsucht, Freiheit und gesellschaftlicher Kälte.“

„Ich kann es kaum erwarten“

Der Sommer in Bregenz wird für Michieletto ein besonderes Kapitel. „Ich bin mit vielen Sänger:innen befreundet, die in Bregenz gearbeitet haben, und sie alle sagen mir, die Atmosphäre sei großartig. Und es gebe fantastische Partys. Ich kann es kaum erwarten.“

Mit La traviata zeigt Michieletto eine Inszenierung, die den Mut hat, in Schönheit die Wahrheit zu sagen. Die Seebühne mit ihrer spektakulären Kulisse wird sich dabei zum Spiegel einer Welt verwandeln, die nicht vergisst zu urteilen und zu spät erkennt, was sie zerstört hat. Eine La traviata, die tief unter die Oberfläche geht, alle Sinne fordert – und mit Bildern, die man nicht vergessen wird.

Damiano Michieletto studierte Opern- und Schauspielregie an der Scuola d’arte drammatica Paolo Grassi in Mailand sowie Literatur in seiner Heimatstadt Venedig. Mit seinen bildstarken, atmosphärischen Inszenierungen feiert er international große Erfolge. Seine Arbeiten sind mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Laurence Olivier Award für die Beste Opernproduktion 2015.