Das Gespräch führte Babette Karner.
Der Text erschien in Ausgabe 1 (11/25).
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Seelenbalsam, Glamour – und eine fantastische Reise zum Mond
Die tragische Liebe der Violetta Valéry, die fantastischen Irrfahrten des Matěj Brouček – und dazwischen ein großes Jubiläum sowie ganz viel Bach: Intendantin Lilli Paasikivi über den Festspielsommer 2026

© Bregenzer Festspiele / Anja Köhler
Sie haben sich für La traviata als Ihr erstes Spiel auf dem See entschieden. Was fasziniert Sie an dieser Oper – und warum passt sie auf die Seebühne?
Lilli Paasikivi: Das Spiel auf dem See zieht Jahr für Jahr fast 200.000 Besucher:innen an, darunter viele, die zum allerersten Mal Oper erleben. Diese Besonderheit verlangt nach Werken, die das Publikum in ihrer Summe packen: Musik, Bühne, Atmosphäre und der See als Kulisse ergeben ein einzigartiges Gesamterlebnis. La traviata gehört zu den meistgespielten Opern der Welt und berührt durch ihre emotionale Direktheit. Die Musik trifft mitten ins Herz. Violetta ist eine Frau zwischen Zerbrechlichkeit und Glamour; ein starkes Sinnbild für unsere Zeit.
Was macht La traviata so beliebt?
Das Stück hat alles, was eine Oper unvergesslich macht: große Arien, ergreifende Chorszenen und eine Geschichte, die universell verständlich ist. Es geht um Liebe, Freiheit und Vergänglichkeit. Violetta möchte sich von gesellschaftlichen Zwängen befreien; sie sucht nach echter Liebe und nach einem erfüllten Leben. Es gibt ausgelassene Szenen wie etwa das berühmte Brindisi „Libiamo ne’ lieti calici“ gleich zu Beginn der Oper, die Leichtigkeit und Lebensfreude vermitteln. Aber wie bei Tosca oder Madama Butterfly sind es oft gerade die stillen, tragischen Momente, die unter freiem Himmel eine ungeheure Kraft entfalten.
Ich schätze Regisseur Damiano Michieletto als innovativen und gleichzeitig sehr zugänglichen Erzähler. Gemeinsam mit dem erfahrenen Bühnenbildner Paolo Fantin versetzt er unsere La traviata in die „Roaring Twenties“ – eine Epoche, die die Gegensätze dieser Oper hervorragend widerspiegelt: rauschende Partys, fragile Intimität und eine Tragödie, die zu Herzen geht.
Mit Die Ausflüge des Herrn Brouček steht als Oper im Festspielhaus ein Werk auf dem Spielplan, das auf den ersten Blick sehr skurril wirkt, in dem man jedoch erstaunlich aktuelle Themen entdeckt.
Die Titelfigur steht für einen kleinbürgerlichen Menschen, der sich eigentlich in seiner nostalgischen Komfortzone verkriechen möchte, dann aber im Traum auf den Mond und ins Mittelalter katapultiert wird. Diese Sehnsucht nach Rückzug und Sicherheit spiegelt auch unsere Gegenwart wider: Wir leben in einer Zeit, die jahrzehntelang von Offenheit und Globalisierung geprägt war. Menschen reisten, suchten neue Erfahrungen, wollten andere Kulturen kennenlernen. Heute sehen wir vielerorts das Gegenteil: Abschottung, Protektionismus und Ausgrenzung. Populist:innen versprechen eine Rückkehr in vermeintlich „bessere Zeiten“. Brouček repräsentiert genau diese Haltung: Er möchte das Neue und das Fremde ausblenden und sich nur mit dem Bekannten umgeben.
Janáček kleidet all das in eine Musik voller Farben, Ironie und überraschender Wendungen. Dieses Spannungsfeld aus Fantasie, Satire und Gegenwartsbezug greift Regisseur Yuval Sharon meisterhaft auf – mit feinem Gespür für groteske Überhöhung und menschliche Zwischentöne.
Lernt Brouček am Ende etwas aus seiner neuen Erfahrung?
Nein, und genau das macht den Reiz dieses Werks aus: Es ist keine klassische Entwicklungsgeschichte, sondern eine Satire. Brouček reist unfreiwillig durch lauter bizarre Welten und bleibt am Ende ein ewig Verstockter. Die Oper hält uns den Spiegel vor und fragt, wie offen wir wirklich für die Welt um uns sind.
Gemeinsam wollen wir ein Zeichen dafür setzen, was Kultur bewirken kann: Menschen verbinden, Hoffnung schenken und Freude teilen.
Johann Sebastian Bach wird im Sommer 2026 eine bedeutende Rolle spielen. Für die Werkstattbühne wurde ein neues Werk in Auftrag gegeben: Passion of the Common Man.
Bach ist einer der Grundpfeiler der klassischen Musiktradition. Seine Passionen gelten als Inbegriff geistlicher Musik. Mich hat die Idee fasziniert, dieses Genre in die Gegenwart zu übertragen – nicht im religiösen, christlichen Kontext, sondern als eine Passion über die Leiden des modernen Menschen. Vielen geht es materiell besser als je zuvor: hohe Lebenserwartung, medizinischer Fortschritt, Wohlstand. Und doch sind nicht wenige Menschen verunsichert, haben Ängste und fühlen sich überfordert. Die Vielzahl an Möglichkeiten und die permanente Informationsflut führen zu einer Art kollektiver Erschöpfung.
Das neue Werk soll dies widerspiegeln: So ist in Zusammenarbeit mit dem international gefragten Komponisten Daníel Bjarnason und dem Librettisten Royce Vavrek Passion of the Common Man entstanden. Ihre Arbeit richtet den Blick auf das Bedürfnis nach Empathie in einer futuristischen, dystopischen Welt und stellt die Frage, ob die Menschheit ohne Mitgefühl überleben kann.
Mit Anne Sofie von Otter konnten Sie eine außergewöhnliche Sängerin für dieses Werk gewinnen.
Ja, das freut uns sehr! Anne Sofie von Otter ist eine Künstlerin, die seit jeher Grenzen überschreitet. Sie bewegt sich mühelos zwischen Oper, Lied, Konzert, ja sogar Folk und Pop. Gerade deshalb ist sie ideal für ein Projekt, das bewusst aus den klassischen Formaten ausbricht.
Bach wird uns auf der Werkstattbühne ein zweites Mal begegnen – in einem Projekt namens Bach Nirvana …
Mit Bach Nirvana möchte ich den klassischen Klavierabend in eine neue Dimension führen. Bachs Klaviermusik wirkt auf mich wie Seelenbalsam: Sie beruhigt, klärt, heilt – fast wie eine Meditation. Diese Erfahrung möchte ich mit unserem Publikum teilen: Bach Nirvana soll ein Eintauchen in Klang und Licht sein, das die Menschen in einen Zustand des inneren Friedens versetzt.
Gemeinsam mit der Pianistin Angela Hewitt habe ich ein Programm zusammengestellt, das von sanften, kontemplativen Stücken bis hin zu monumentalen Präludien und Fugen reicht: ein pianistisches Ereignis auf allerhöchstem Niveau. Diese Musik wird in einen Dialog mit einer anderen Kunstform treten: Mikki Kunttu ist ein großartiger Lichtkünstler und wird auf der Werkstattbühne ein sinnliches Gesamterlebnis entstehen lassen.
Auch in der Bregenzer Pfarrkirche St. Gallus wird 2026 Bach zu hören sein.
Der große Erfolg des Konzerts mit dem YL Male Voice Choir im vergangenen Sommer hat mich dazu ermutigt, auch in diesem Jahr ein Chorkonzert zu präsentieren. Zu hören sein wird der Chor des Bayerischen Rundfunks, der auch in Passion of the Common Man eine wichtige Rolle spielen wird. Die Galluskirche ist ein barockes Kleinod und wie geschaffen für Bachs Musik: ein Ort, an dem sich Werk und Klang ideal verbinden.

Welche Pläne haben Sie für das Opernstudio?
Wir zeigen Gaetano Donizettis L’elisir d’amore, eine Oper voller Esprit und Gefühl, ideal für junge Stimmen: lebendig, humorvoll, mit lyrischen Rollen und viel Ensemblearbeit. Anna Kelo übernimmt die Regie und überträgt das Stück in eine moderne Welt: frech, temporeich, aber mit viel Herz. Die Produktionen des Opernstudios sollen jung, nahbar und voller Lebensfreude sein – ideal für das Publikum von morgen.
Im kommenden Sommer feiern wir das 80-jährige Jubiläum der Bregenzer Festspiele unter dem Motto „Free Fall into Passion“.
Die Passion, die Leidenschaft ist natürlich vor allem in La traviata und Passion of the Common Man inhaltlich ein großes Thema. Doch das Jubiläums-Motto spiegelt auch die Hingabe aller Beteiligter wider, die unser Festival erst möglich machen. Sich voller Vertrauen hineinzuwerfen in die Produktionen und das Erleben, dies eint Künstler:innen, Festival-Team und Publikum gleichermaßen.
Für mich ist dieses Jubiläum weit mehr als ein Bühnenfest. Von Anfang an hat mich die Geschichte der Bregenzer Festspiele beeindruckt: Sie entstanden kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – als Zeichen des Aufbruchs, getragen von Menschen, die an die verbindende Kraft der Musik glaubten. Diesen Geist und die Leidenschaftlichkeit möchte ich im kommenden Sommer wieder aufleben lassen: als gemeinsames Fest der ganzen Region.
Neben einer Ausstellung in den Bregenzer Seeanlagen mit Bildern legendärer Seebühnenproduktionen planen wir ein großes Community-Projekt: Beim Singalong am See kommen Chöre und Vereine aus dem gesamten Bodenseeraum zusammen und machen die Seetribüne selbst zu einem einzigen klingenden Körper. Gemeinsam wollen wir die schönsten Opernchöre aus acht Jahrzehnten Festspielgeschichte singen – als lebendiges Symbol dafür, was Kultur bewirken kann: Menschen verbinden, Hoffnung schenken und Freude teilen.

Vom Mittanzen zum Mitsingen: Der finnische Tangoabend 2025 und das Singalong am See 2026 zeigen Lilli Paasikivis Freude an Begegnung und gemeinsamer Musik.
